Türkische Wurzeln, in München zu Hause
Wer im Münchner Osten eine neue Mülltonne braucht, kommt wahrscheinlich nicht an Emel Tiryaki vorbei. Auf ihrem Schreibtisch landen täglich die Anträge
Emel Tiryaki | Sachbearbeiterin beim Abfallwirtschaftsbetrieb München
Hinten im Betriebshof Ost des Abfallwirtschaftsbetriebs München (AWM) stapeln sich die Mülltonnen. Hunderte, nein: tausende Tonnen lagern hier ordentlich aufeinander geschichtet. Wer auch immer in München umzieht, bekommt eine dieser Mülltonnen aus dem riesigen Bestand des AWM. Im Betriebshof Ost lagern die Mülltonnen für ganz München.
Bevor allerdings eine neue Mülltonne im Münchner Osten ausgeliefert wird, landet der zugehörige Antrag auf dem Schreibtisch von Emel Tiryaki. Die 36-Jährige sitzt oben in einem der Büros des Betriebshofs Ost.
Der Blick geht durch das große Fenster hinaus auf die Bavaria Towers am Vogelweideplatz. Die Sachbearbeiterin ist zuständig für die An- und Abmeldungen von Mülltonnen im ganzen Münchner Osten. Und nicht nur dafür: Auch wenn ein Haushalt oder eine Firma merkt, dass der Müll zu viel oder die Tonne zu klein ist, wenn Zusatzmüll anfällt, für Veranstaltungen Extra-Tonnen aufgestellt werden müssen oder wenn Tonnen gereinigt werden müssen, kümmert sich Emel Tiryaki darum. „Ich habe sehr unterschiedliche Aufgaben“, sagt sie. Antrags- und Anfragenbearbeitung, Tourenplanung, die Bearbeitung von satzungsrechtlichen Vorgängen, Schlüsselverantwortung und mehr. „Ich mag das, meine Arbeit ist wirklich sehr vielfältig.“ Wie viele Anträge sie in der Woche oder im Monat bearbeitet? „Das kann ich nicht sagen“, sagt sie und schüttelt den Kopf. München wächst – das merkt man natürlich auch beim AWM.
Deutsch lernen im Kindergarten
Wenn man mit Emel Tiryaki spricht, dann hört man einen leichten Akzent, der sehr charmant klingt. Das überrascht ein wenig, denn sie erzählt, dass sie in München geboren und aufgewachsen ist. Ihre Familie kommt ursprünglich aus der Stadt Trabzon an der türkischen Schwarzmeerküste. Ihr Vater war in den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach München gekommen. Später holte er die Familie nach. Emel ist die jüngste und als einzige von den sieben Kindern in München geboren. Die Familie lebte in Neuaubing im Münchner Westen. Als Emel in die erste Klasse der Grundschule kam, sprach sie kein Wort Deutsch. „Wäre ich damals in den Kindergarten gegangen, dann würden Sie heute keinen Akzent bei mir hören“, glaubt sie. Sie habe das bis heute nicht wirklich aufholen können. Vergangenes Jahr hat sie sogar noch mal einen Deutschkurs aus dem Fortbildungsprogramm der LHM besucht, weil sie die deutsche Sprache noch besser beherrschen will. Ihre Kinder hingegen waren beide im Kindergarten. „Sie sprechen besser Deutsch als Türkisch“, sagt sie.
Seit Juni 2014 arbeitet Emel Tiryaki bei der Landeshauptstadt München. Sie hatte sich eigentlich als Assistenzkraft bei der Stadt beworben und dann erst einmal vier Monate lang nichts gehört – bis plötzlich das Telefon klingelte: Eine Mitarbeiterin des Abfallwirtschaftsbetriebs München lud sie zum Bewerbungsgespräch ein – für eine andere Position. Sie stellte sich vor und hatte einen Tag später die Zusage, dass sie künftig für den Eigenbetrieb AWM der Landeshauptstadt München arbeiten werde.
Ursprünglich hatte Emel Tiryaki eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau begonnen. Doch sie heiratete - „die Liebe!“, sagt sie lächelnd – und wurde eineinhalb Jahre später schwanger. Drei Jahre nach ihrem Sohn wurde ihre Tochter geboren. Ihr Zeitvertrag im Einzelhandel war schon während ihrer ersten Schwangerschaft nicht verlängert worden. Sie war zunächst arbeitslos, dann mit den beiden Kindern in Elternzeit.
Einfach miteinander reden
Doch kaum, dass ihr Sohn eingeschult wurde und ihre Tochter den Kindergarten besuchte, nahm Emel Tiryaki ihre berufliche Karriere wieder in den Blick. „Mein Mann hat damals nachts gearbeitet“, sagt sie, „so konnte er sich morgens um die Kinder kümmern.“ Sie begann eine Umschulung zur Bürokauffrau, unterstützt von der Arbeitsagentur. Zweieinhalb Jahre Unterricht, sieben Monate Praktikum – es dauerte drei lange Jahre, bis sie den Abschluss in in der Tasche hatte.
Schnell fand sie 2012 eine Arbeitsstelle in der Kreditorenbuchhaltung eines Immobilienunternehmens. Doch das Unternehmen stellte sie nur zeitlich befristet ein, so dass sie sich schließlich bei der LHM bewarb. „Ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit“, sagt sie. Das Verhältnis zu den Kolleginnen und Kollegen ist sehr gut. „Und wenn mal etwas nicht stimmt zwischen uns, dann reden wir einfach miteinander“, sagt sie und lacht.
Ihr Mann arbeitet inzwischen auch beim AWM. In der Türkei war er Akademiker mit einem Uni-Diplom als Maschinentechniker. Sein Abschluss wurde hier in Deutschland jedoch nicht anerkannt. Zuerst jobbte er als Zeitungsausträger. Im März 2016 fing er dann beim AWM als Mülllader an, heute ist er Vorarbeiter, allerdings in einem anderen Betriebshof.
Kein Mann aus der Türkei
Eigentlich wollte sie nie einen Mann aus der Türkei heiraten, das schien ihr zu kompliziert, wegen der Sprache und mangelnden Arbeitsmöglichkeiten. Sie glaubte, dass es mit einem in Deutschland aufgewachsenen Türken besser funktionieren könnte. Doch es kam anders. Bereits mit 19 Jahren hat sie Hakan kennengelernt, in der Türkei, bei der Hochzeit einer ihrer Schwestern. Er war durchaus von ihr angetan, aber sie wollte ihre eigene Überzeugung nicht sofort über Bord werfen. Ein Jahr später, bei einem Besuch in Trabzon, traf sie sich noch mal mit ihm, und da war es schnell um sie geschehen. Am nächsten Tag gab es schon den Verlobungsring. Und dann wurde auch bald geheiratet, denn „ein uneheliches Zusammenleben, das gibt es bei uns nicht“, erklärt sie. Die Hochzeit wurde nach türkischer Tradition in Trabzon gefeiert, mit 500 Gästen und drei ganze Tage lang.
Emel ist schon mit 18 Jahren deutsche Staatsbürgerin geworden, weil sie wusste, dass sie in Deutschland leben und arbeiten wollte. Das sollte sich zwei Jahre später als Glücksfall erweisen, denn für sie als Deutsche war es leichter, ihren Ehemann nach München zu holen. Die Kinder haben beide Staatsbürgerschaften und können sich mit 18 Jahren dann selbst entscheiden, welche sie behalten wollen. Hakan ist nach wie vor türkischer Staatsbürger.
Den Kindern hat sie türkische Namen gegeben, aber mit Bedacht solche, die sich auch mit deutschen Zungen leicht sprechen lassen. So heißt der Sohn Taha und die Tochter Rana. Die beiden sind jetzt 14 und 11 Jahre alt und fest in Deutschland verwurzelt. Doch es ist ihr wichtig, dass sie auch die türkische Kultur und Werte leben.
„Mit unseren türkischen Wurzeln haben wir ein engeres Verhältnis zur Familie, als das in Deutschland üblich ist.“ Als Beispiel führt sie an, dass die Kinder aus türkischen Familien nicht mit 18 Jahren von Zuhause ausziehen, sondern erst, wenn sie heiraten. Während Emel und Hakan am liebsten türkisch essen, zum Beispiel Karniyarik (mit Hackfleisch gefüllte Auberginen), mögen die Kinder deutsches Essen, am liebsten Braten mit Soße. So kommt im Hause Tiryaki oft auch mal Putenbrust mit Kartoffelknödel und Soße auf den Tisch.
Das Heimatland kennenlernen
Als gläubige Muslimin fastet sie während des Ramadans, dann trinkt sie tagsüber nicht einmal einen Schluck Wasser. Die Kolleginnen und Kollegen nehmen in dieser Zeit immer Rücksicht auf sie und essen möglichst nicht vor ihren Augen. Andererseits gibt es im Betriebshof Ost auch eine ganze Gruppe von Mitarbeitenden, die ebenfalls fasten. Auch wenn Emel Tiryaki den Ramadan begeht, dem Klischeebild einer gläubigen Muslimin entspricht sie überhaupt nicht. Sie trägt kein Kopftuch, aber gerne schicke ärmellose Oberteile, wenn es im Sommer heiß ist. So lebt sie eine moderne und selbstbewusste Form von Religiosität. Im Arbeitsumfeld bei der Landeshauptstadt München, aber auch im persönlichen Umfeld von Emel Tiryaki kommt diese Haltung gut an.
In ihrer Freizeit widmet sie sich der Familie, und, wenn sie Zeit hat, gerne der Tortenbäckerei – richtige Kunstwerke entstehen da, mit spektakulärer Dekoration. „Diese Torten verschenke ich an meine Lieben, an Menschen, die mir viel bedeuten“, sagt sie. Je nachdem, wer der oder die Beschenkte ist, sind die Tortengebilde dann komplett knallrosa oder mit kleinen Fußbällen dekoriert.
Ein bis zwei mal im Jahr fährt die vierköpfige Familie mit dem Auto die 3.000 Kilometer in die Türkei. Meistens nach Trabzon, wo ihre Eltern sechs Monate im Jahr wohnen und auch drei ihrer Geschwister leben. Aber hin und wieder steuern die Vier auch andere Ziele in der Türkei an, zum Beispiel Antalya am Mittelmeer. „Ich will ja auch noch etwas anderes von meinem Heimatland kennenlernen,“ sagt sie. Zumal in Trabzon die Sitten strenger sind als am liberaleren Mittelmeer. Die Strände seien nicht so freizügig. „Frauen haben dort mehr an, und es gibt Strände nur für Frauen.“ Ob sie je mal darüber nachgedacht hat, ganz in die Türkei zu gehen? Sie schüttelt den Kopf. „Natürlich wollen wir in München bleiben“, sagt sie. „München, das ist unser Zuhause.“