Von Damaskus ins Münchner Jobcenter

Fadi Alshash arbeitet im Jobcenter. In seinem früheren Leben in Syrien war er Anwalt. Mit Glück, Fleiß und Hilfe hat er es geschafft, ein neues Leben aufzubauen.

Fadi Alshash | Sozialreferat, Jobcenter

Fadi Alshash
Foto: Jürgen Liebherr

Freitagnachmittag im Münchner Jobcenter Nord. Auf dem Tisch steht ein undefinierbares Espresso-Misch-Getränk und eine kleine Flasche Wasser. Genau das, was es jetzt braucht. „Wie geht es Ihnen?“, fragt Fadi Alshash. Anschließend bietet er ohne Umschweife das Du an. Das wirkt nicht aufdringlich, sondern verbindlich. „Sonst ist es hier nicht so ordentlich, aber jetzt habe ich ja Besuch“, sagt er. Er erklärt kurz das Haus, strahlt dabei eine solch große innere Ruhe aus, dass die stressige, baustellenreiche Anfahrt mit dem Radl schnell vergessen ist.

Gut, es ist Freitagnachmittag, kein Parteiverkehr hier im Jobcenter Nord, kaum Menschen im Haus. Da kann man auch mal entspannt sein. Seit Februar 2021 arbeitet Fadi hier als Leistungssachbearbeiter und befasst sich mit Anträgen auf Bürgergeld. Noch vor zehn Jahren hat er in Syrien als Anwalt gearbeitet. Von Syrien ins Münchner Jobcenter? Man ahnt, dass es ein langer und nicht ganz einfacher Weg war.

Geboren wurde Fadi Alshash 1975 in Damaskus. Nach seinem Jura-Studium arbeitete er neun Jahre als selbstständiger Rechtsanwalt für Familien- und Zivilrecht in der Stadt Harasta, unweit von Damaskus. Dort lebte er mit seiner Familie, seiner Frau und drei Kindern. Dann kam der Krieg. Harasta wurde zerstört, auch seine Wohnung. Er zog mit seiner Familie nach Damaskus, dort aber verfügte er über kein Netzwerk, keinen Kundenkreis mehr. 2015 entschloss er sich zur Flucht: Seine Frau und er entschieden, dass er sich vorerst allein auf den Weg macht. Für die Kinder war es zu gefährlich.

Zuerst ging er in die Türkei. Dort blieb er zwei Wochen. Mit dem Boot ging es anschließend zu einer griechischen Insel. Die nächtliche Fahrt dauerte zwei Stunden, etwa 30 Menschen saßen in dem Boot. Das Meer war ruhig. An den Namen der Insel kann er sich nicht mehr erinnern, da müsste man seine Frau fragen, die kann sich so etwas merken. 1.000 Dollar. Das war der Preis für die Überfahrt.

„Schlepper sind keine guten Menschen“

Sein Blick geht aus dem Fenster, gemeinsam gönnt man sich die Aussicht auf die Knorrstraße. Im Haus ist es völlig still. Man hört nur den Autoverkehr. „Schlepper sind keine guten Menschen“, sagt er. Schlimm war es mit den vielen Kindern auf dem Boot. Die hatten eine solche Angst, dass sie die ganze Zeit geweint haben.

Aber: „Das Meer war ruhig“, merkt Fadi nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal an. Von der Insel aus ging es nach Athen, von da an sei alles problemlos gelaufen. Mit Bus und Zug kam er nach Österreich, schließlich nach Deutschland. Dort war er zunächst allein. 2017 zogen seine Frau, die Tochter und die beiden Söhne nach. Mittlerweile lebt die Familie in Giesing.

Auch seine Frau arbeitet bei der Landeshauptstadt, sie macht eine Ausbildung als Kinderpflegerin. „Wir sind zufrieden“, sagt er. Um Fuß zu fassen, absolvierte er eine Fortbildung in Büroorganisation. Auch sein Jura-Diplom aus Syrien ist mittlerweile anerkannt. Zudem erwarb er das C 1-Spachzertifikat in Deutsch. Er spricht natürlich auch Arabisch. In Syrien muss man Hoch-Arabisch als Nebenfach belegen, wenn man Jura studiert, erzählt er, um die juristischen Themen auch allgemein verständlich vermitteln zu können. Englisch aber, das er früher gut beherrschte, hat er vergessen.

Die Arbeit im Jobcenter macht ihm Spaß. Er kann viele Entscheidungen selbst treffen, hat viel Mitspracherecht. Das ist ihm wichtig. Er hat schon vor seiner Anstellung eine Menge über die Stadt München als Arbeitgeberin gelesen. Was genau? Die Stadt bietet sichere Arbeitsplätze mit unbefristeten Verträgen, sie setzt sich für Vielfalt und Toleranz, eine chancengerechte Arbeitswelt und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatem ein. Wie er das so darlegt, klingt es fast ein wenig auswendig gelernt, aber auch nicht aufgesetzt. Denn all dies hat ihn wirklich angezogen, auch, dass sich die Landeshauptstadt als weltoffen und zukunftsorientiert versteht - „obwohl wir hier an der Dienststelle immer noch mit der Kartonkarte stempeln“, lässt er nicht unerwähnt und schmunzelt. Wie das in Syrien mit der Zeiterfassung funktioniert, verrät er allerdings nicht – vermutlich aus Höflichkeit.

Er selbst hat auch von diesen „weichen“ Aspekten der Landeshauptstadt profitiert. Besonders geholfen hat ihm dabei das Mentoring-Programm: Mit Sylvia Dietmaier-Jebara vom Personal- und Organisationsreferat hat er ein Vierteljahr zusammengearbeitet und trifft sich weiterhin mit ihr. „Sie hat mir viel von ihrer Zeit gegeben“, sagt er, und sie war es auch, die ihn auf diese Stelle im Sozialreferat aufmerksam gemacht hat.

Jetzt sitzt er also an der anderen Seite des Schreibtisches. Fünf Jahre hatte das Jobcenter Giesing-Harlaching ihm geholfen, nun kann er im Jobcenter Nord andere unterstützen: Wer hat Anspruch auf Bürgergeld und wie kann man helfen, Arbeit zu finden? Das war schon eine Umstellung. Generell unterscheidet sich das syrische Recht natürlich vom deutschen, zum Beispiel auch beim Familienrecht: Ein syrischer Mann kann dort mit vier Frauen verheiratet sein, sagt er.

„Im Jobcenter bin ich zufrieden; dort kann ich Menschen helfen“, sagt er. Seine Arbeit beginnt er meist um 6.00 Uhr, in aller Herrgottsfrühe. Die Kinder stehen um 7.00 Uhr auf, da gibt es so viel Trubel. „Da bin ich lieber in der Arbeit“, sagt er und lacht. Fadi äußert sich nun immer offener. „Was mir so wichtig wäre, ist die deutsche Staatsbürgerschaft“, spricht er frei heraus. Aktuell verfügt er über eine Niederlassungserlaubnis. Nun ist er acht Jahre in Deutschland und der Antrag zur Einbürgerung läuft.

Sobald er die deutsche Staatsbürgerschaft hat, möchte er seine Eltern treffen. Die hat er seit der Flucht nicht mehr gesehen. Mutter und Vater könnten nach Libanon ausreisen oder nach Jordanien, dort würde die Familie zusammenkommen. Nach Syrien zu reisen wäre für ihn zu riskant.

„Und helfen, das will ich jetzt auch“

Fadi Alshash mit einem Kollegen des Jobcenters
Foto: Jürgen Liebherr
Fadi Alshasch bespricht sich mit einem Kollegen des Jobcenters

„Bedien‘ dich“, sagt er. Jetzt gibt es neben dem weiterhin undefinierbaren Getränk, das eine Mischung aus Espresso, Milch und Fanta zu sein scheint, auch noch Schokolade. Die drei Jahre ohne Frau und Kinder zogen sich unendlich lange, kommt Fadi auf das Wesentliche zurück. Zunächst hat er Unterschlupf in einer Pension am Hauptbahnhof gefunden, mit mehreren Leuten in einem Zimmer. Damals machte er ein Praktikum bei der Firma Linde Gas in der Rechtsabteilung. Plötzlich sprach ihn seine Chefin an: „Heute um 11 gehen wir!“. „Wohin?“ „Na, eine Wohnung anschauen.“

So kam es, dass er eine Wohnung bei der Tante seiner Chefin fand. Die ist pensionierte Deutschlehrerin und kümmerte sich um ihn, man sieht sich heute noch. Damals, als seine Familie nachzog und zunächst in dieser kleinen Wohnung unterkam, hatte er sie gefragt, ob das ein Problem sei. Sie gab zurück: „Wenn es für dich kein Problem ist, ist es für mich auch keines“.

Er mag die Deutschen, die meisten sind solidarisch und hilfsbereit. „Und helfen, das will ich jetzt auch.“ Auch die Kinder sind zufrieden. Die Söhne spielen Fußball, für einen Haidhausener Klub, der in Giesing seinen Platz hat. Die Tochter ist neun. Sie geht gerne in die Schule. Sie geht sogar so gerne in die Schule, dass sie weint, wenn sie das einmal nicht darf. „Das ist wirklich nicht normal“, lacht er.

Zu Hause treffen sie oft Freunde. Sie kochen gerne gemeinsam: Mezze, also Vorspeisen, zum Beispiel Hummus, Fattusch, Tabbouleh, Falafel. Als Hauptgericht Reis mit Auberginen, Lammfleisch und Salat (Makluba), Hähnchen auf Reis und Mandel (Kabsa), Weinblätter mit Reis und Lammfleisch. „Wir haben auch viele deutsche Freunde. Da braucht es natürlich die Sprache“. Er hadert noch mit den deutschen Umlauten. Die Fachausdrücke, die er für die Arbeit benötigt, fordern ihn ebenfalls heraus, vor allem: „Exmatrikulationsbescheinigung“.

Und mit dem bayrischen Dialekt, da tut er sich noch schwer. Er versteht nur wenige Worte und muss sich die Vokabeln wie bei einem Puzzle zusammensetzen, um einigermaßen den Kontext zu verstehen. „Wissen Sie, wenn jemand bayrisch spricht, muss ich die Ruhe bewahren, einfach nur konzentriert zuhören.“ Ruhe, das liegt ihm ja. Vor allem im Amt macht ihm der Dialekt mitunter Schwierigkeiten, seine Kolleg*innen helfen dann, wo es geht. „Die sind alle sehr nett. Auch meine Teamleiterin - und ich sage das nicht, weil ich es sagen muss“, stellt er klar.

Sonst hat er mit den Kund*innen eigentlich keine Probleme. Die Menschen brauchen Geld zum Leben. Auch wenn es natürlich rechtliche Grenzen gibt, ist zumindest eine schnelle Bearbeitung wichtig. Auch so kann er zurückgeben. Und er freut sich unheimlich, wenn sich jemand bei ihm bedankt.

„Ich mag die Demokratie hier, man kann seine Meinung äußern“

Auch er hat dieses Espresso-Getränk vor sich, nimmt einen großen Schluck. Kaffee trinkt er eigentlich ständig, meint er, seine größte Schwäche sei aber das Rauchen. Er raucht, obwohl es alle gut mit ihm meinen. Die Frau verbietet es, der Arzt verbietet es. Während des Ramadans aber raucht er nicht und trinkt auch keinen Kaffee. „Ramadan – das letzte Mal war es echt schwierig“, sagt er. Er musste sich drei Wochen Urlaub nehmen. Er hat gefastet und geschlafen, drei Wochen lang, und so spät am Abend gegessen, dass er nachts nicht zur Ruhe kam.

Das Zuckerfest fiel dieses Mal auf ein Wochenende. Es ist wie Weihnachten bei den Christen, vergleicht er. Dann darf man auch wieder rauchen. „Ich respektiere alle Religionen“, sagt er, „so wie die Deutschen das auch tun.“

Urlaub macht die Familie Alshash gerne in den bayrischen Bergen, wo es nicht so heiß ist. In Syrien gab es schon vor dem Krieg nicht durchgehend Strom, oft nur ein paar Stunden, also auch nicht immer eine funktionierende Klimaanlage. „Ich hasse die Hitze!“. Neulich waren sie in einer Ferienwohnung. Auf dem Land. Sehr schön. Sonst sind sie gerne im Olympiapark. Oder im Westpark zum Grillen, was man dort darf. Am liebsten Lammfleisch! Das bekommt man rund um den Hauptbahnhof sehr gut.

„In Syrien ist es derzeit etwas ruhiger. Aber vieles ist zerstört. Damaskus ist weniger zerstört, dort regiert ja das Regime. Ich mag die Demokratie hier, man kann seine Meinung äußern, nicht so wie dort“, sagt er und streicht mit dem Zeigefinger über den Mund, als schließe er einen Reißverschluss.

Unten an der Stempeluhr, schon die Zigarette im Mund, will er noch etwas loswerden: „Es ist mir wichtig, danke zu sagen! Danke Deutschland, danke den Leuten, die mir geholfen haben!“

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