Gehörlos auf Entdeckungstouren
Verena Hollweck ist von Geburt an gehörlos. Wenn es darum geht, das Leben und die Welt zu erkunden, greift sie beherzt zu.
Verena Hollweck | Nachwuchskraft
Verena Hollweck ist von Geburt an gehörlos. Wenn es darum geht, das Leben und die Welt zu erkunden, greift sie beherzt zu. Auch als Auszubildende der Stadt München ist sie neugierig, will möglichst viele Dienststellen kennenlernen.
Verena Hollwecks Hände schweben im Raum, als würden sie Ballett tanzen. Mit poetisch anmutenden Gesten und ihrer lebhaften Mimik unterstützt sie, was sie sagen möchte. Die 24-Jährige ist ein fröhlicher Mensch und hat viel mitzuteilen, ein echtes Kommunikationstalent. Dass sie gehörlos ist, ändert nichts daran. Bei unserem Treffen lässt sich Verena Hollweck von einer Gebärdensprachendolmetscherin begleiten. So kann sie sicher sein, alles zu verstehen und richtig verstanden zu werden.
„Ich bin offen und empathisch“, sagt sie über sich selbst. Mit dieser Einstellung ist es der zierlichen Nachwuchskraft gelungen, die Kolleg*innen auf jeder ihrer Ausbildungsstationen zur Verwaltungsfachangestellten schnell für sich einzunehmen. Bis vor Kurzem arbeitete sie in der Abteilung Kommunale Verkehrsüberwachung des Kreisverwaltungsreferats. Mit ihrem Team verstand sie sich bestens. Bald wollten ihre Büronachbar*innen ein paar Begriffe der Deutschen Gebärdensprache (DGS) von ihr lernen. Seitdem wird Verena Hollweck mit „Hallo“ – einem kurzen Winken – begrüßt. Andere wünschen ihr in Gebärdensprache „Viel Spaß!“: Für „viel“ machen die Finger eine Wellenbewegung in Höhe des Kinns, dann rutscht der Zeigefinger für „Spaß“ zweimal die Nase herunter. Das geht blitzschnell und sieht so lustig aus, wie der Begriff gemeint ist.
Auch an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz im Amt für Wohnen und Migration hat die gebürtige Münchnerin schon Interesse an der Gebärdensprache geweckt. Ihr Ausbilder Tim Hofmann schmunzelt vielsagend, als er nach seinen DGS-Kenntnissen gefragt wird. Statt mit Stimme zu antworten, hebt er die Hand und lässt zwischen Daumen und Zeigefinger nur einen kleinen Spalt. Das soll heißen: „Ein bisschen“ kann er schon.
Die beiden beugen sich über eine der vielen Akten, die sich in ihrem Büro in der Werinherstraße stapeln. Es geht um Anträge zur Einkommensorientierten Zusatzförderung von Wohnraum. Bei längeren oder komplizierten Erklärungen tauschen sich die beiden lieber schriftlich aus. „Auf Dauer ist es ermüdend, alles von den Lippen ablesen zu müssen“, sagt Hollweck. „Außerdem ähneln sich die Mundformen für manche Wörter. Dann muss ich mir aus dem Zusammenhang erschließen, was gerade gemeint sein könnte.“ Umgekehrt müssen auch Hörende manchmal nachfragen, wenn Gehörlose mit ihnen sprechen. Deren Ausdrucksweise klingt bei der ersten Begegnung oft fremd, weil taube Menschen Wörter und Sätze artikulieren, ohne ihre Aussprache oder Stimmlautstärke kontrollieren zu können. Um Missverständnissen vorzubeugen, tippen Hollweck und Hofmann daher die wesentlichen Informationen auf ihr Handy-Display oder in den Computer.
„Die Arbeit sollte mir Freude machen“
Verena Hollweck ist eine von 23 gehörlosen Mitarbeiter*innen in der Stadtverwaltung. Hinzu kommen noch weitere Beschäftigte mit Hörbehinderungen. Und wieso hat sie sich für eine Karriere bei der Stadt entschieden? „Vor der Berufswahl habe ich drei Suchkriterien festgelegt: Die Arbeit sollte mir Freude machen. Ich wollte einen sicheren Job. Ein behindertenfreundliches Umfeld war mir ebenfalls wichtig.“ Sie lächelt verschmitzt: „So habe ich superschnell den idealen Arbeitgeber gefunden – die Landeshauptstadt München.“ Während sie das erzählt, fliegen ihre Hände noch engagierter hin und her. Die Simultandolmetscherin an ihrer Seite muss entsprechend das Sprechtempo erhöhen.
Auch zum Bewerbungsgespräch ließ sich Verena Hollweck von einer Gebärdensprachendolmetscherin begleiten. „Ich war ein bisschen nervös und wollte sichergehen, dass ich alles richtig verstehe. Das Lippenlesen erfordert höchste Konzentration – besonders, wenn die Leute undeutlich artikulieren oder Schatten auf ihr Gesicht fallen.“ Am ersten Arbeitstag im September 2021 war ebenfalls eine Dolmetscherin dabei. „Ich hatte so viele Fragen und bei den Antworten kam es mir auf jedes Detail an. Außerdem wollte ich meine Kolleg*innen ausführlich darüber informieren, wie wir uns am besten verständigen. Für viele war die Situation wahrscheinlich ungewohnt.“
Inzwischen wissen alle, worauf sie achten müssen. Wenn die taube Kollegin in eine Fallbearbeitung vertieft ist, bekommt sie oft nicht mit, was sich außerhalb ihres Blickfelds abspielt. Dann gibt es für die anderen im Team mehrere Möglichkeiten, sich bemerkbar zu machen: Sie tippen Verena Hollweck auf die Schulter. Senden ein Lichtsignal, indem sie Lampen ein- und ausschalten. Oder klopfen auf die Tischplatte, damit sie auf die Vibration reagiert.
Ansonsten wechseln die Arten der Verständigung nach Bedarf: Die digitale Technik vereinfacht vieles. In Webex-Meetings lässt sich eine Untertitel-Funktion für die Beiträge zuschalten. Bei den meisten Smartphones gehört Software, die gesprochene Sprache in Schrift verwandelt, längst zum Standardprogramm.
Die Corona-Pandemie brachte ein doppeltes Handicap mit sich – nicht nur für Verena Hollweck: „Wenn die Leute Maske tragen, haben Gehörlose keine Chance, von den Lippen abzulesen. Außerdem ist es für taube Menschen sehr wichtig, sich untereinander auszutauschen. Wegen der hohen Ansteckungsgefahr ging das eine Weile nicht. Das war eine harte Zeit für uns.“
Zum Glück kann sie mit ihren Arbeitskolleg*innen auf die Gebärdensprache ausweichen, denn die funktioniert notfalls auch mit Maske vor dem Gesicht: „Wer sich dafür interessiert, dem bringe ich einige Begriffe bei. Aber ich möchte niemanden dazu zwingen.“
Wie bereichernd es sein kann, sich auf andere Sichtweisen und Kulturen einzulassen, weiß Verena Hollweck aus eigener Erfahrung. Die junge Frau, die aus einer gehörlosen Familie stammt, zog es schon früh in die Fremde: Ihr Fachabitur absolvierte sie am Rheinisch-Westfälischen Berufskolleg in Essen, „weil die dortigen Lehrer die Gebärdensprache gut beherrschen. Das war an meiner Schule in München nicht der Fall“.
„Ich wollte unbedingt ins Ausland gehen“
Dann erfüllte sie sich ihren größten Wunsch: „Ich wollte unbedingt ins Ausland gehen. Eine Bekannte machte mich auf eine Bar in Barcelona aufmerksam, deren Geschäftsführer gehörlos ist.“ Kurze Zeit später landete sie mit einer Jobzusage in der katalanischen Hauptstadt. „Dort habe ich mich sofort wohlgefühlt.“
Die „Zyirab Shisha Lounge und Bar“ ist über die Grenzen Spaniens hinaus berühmt. Das liegt nicht nur an den dort servierten Tapas und arabischen Spezialitäten, sondern auch an dem inklusiven Geschäftskonzept: Das gesamte Personal ist gehörlos. Die Gäste kommen aus aller Welt, sind teils hörend, teils taub. „Auch dort gilt das Prinzip: Der Kunde ist König“, erklärt Hollweck. „Also muss die Kommunikation irgendwie funktionieren.“ Ein paar Brocken Spanisch, Mimik, Gesten, Fingerzeige auf die Getränkekarte – alles ist erlaubt. Zur Not hilft die Übersetzungsfunktion von Google. „Es war eine coole Zeit“, erinnert sie sich. „Zum Schluss war ich so etwas wie die stellvertretende Geschäftsführerin. Das gab mir das Selbstvertrauen, dass ich es überall schaffen kann.“ Wegen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns in der Gastronomie kehrte sie schließlich in die Heimat zurück.
Nun setzt sich die Münchnerin neue Ziele für ihren Lebensweg: „Ich möchte während meiner Ausbildung bei der Stadt möglichst viele Dienststellen kennenlernen. Dann kann ich leichter entscheiden, wo ich später bevorzugt arbeiten möchte.“ Hat sie schon irgendwelche Präferenzen? „Dafür ist es noch zu früh“, winkt sie ab, fügt aber mit einem Augenzwinkern hinzu: „In der Schule war BWL/Rechnungswesen eines meiner Lieblingsfächer. Vielleicht sollte ich mal bei der Stadtkämmerei hineinschnuppern.“ In ein paar Jahren ein Studium draufzusatteln, könnte sie sich ebenfalls vorstellen, „selbst wenn das ganz schön viel Stress bedeutet“. Irgendetwas mit Psychologie fände sie reizvoll. „Ich möchte gerne erkunden, was andere Menschen bewegt.“
Entdeckungstouren sind auch privat ihr Hobby: „Ich bin oft in der Natur unterwegs und fotografiere viel. Außerdem lerne ich gerne Leute kennen oder schaue mir Orte an, die touristisch noch nicht so erschlossen sind.“ Im Sommer war Verena Hollweck in Italien unterwegs. Außerdem betreute sie in einem Feriencamp gehörlose Jugendliche.
„Unsere Einschränkung sieht man uns nicht an“
Bei der Begegnung mit Verena Hollweck fällt auf, wie aufmerksam sie sich um ihre Besucherin und ihren Besucher kümmert und ihnen jedes noch so kleine Bedürfnis von den Augen abliest: Brauchen Sie noch etwas? Wollen Sie einen Kaffee oder Wasser? Soll ich eine kleine Führung durch die Abteilung machen? Wäre dieser Raum okay fürs Interview? Das hat vielleicht mit ihrer Erfahrung als professionelle Gastgeberin in Barcelona zu tun. Aber da schwingt noch mehr mit: Es ist wie ein unausgesprochenes „Herzlich willkommen in meinem Kosmos! Schaut Euch ein bisschen um in der faszinierenden Welt der Gehörlosen!“
Deshalb also die Gegenfrage: Ist für sie alles okay bei der Stadt? Verena Hollweck nickt. „Ich bin sehr zufrieden mit den Möglichkeiten, die mir hier geboten werden.“ Mit den anderen gehörlosen städtischen Mitarbeiter*innen ist sie in einer WiLMA-Arbeitsgruppe vernetzt.
Bevor das Gespräch zum Ende kommt, ist ihr eines noch wichtig: „Unsere Einschränkung sieht man uns nicht an. Das ist im Alltag oft ein Nachteil. Beispielsweise stehen wir dann vor einer verschlossenen Tür, weil wir nicht mitbekommen, dass uns jemand durch die Gegensprechanlage anspricht.“ Auf solche Hindernisse sollten auch Behörden achten, empfiehlt sie. Laut der Bundesfachstelle Barrierefreiheit leben etwa 80 000 gehörlose Menschen in Deutschland, weitere 120 000 sind hochgradig hörgeschädigt.
Einen Tipp gibt sie ihrem Gast noch mit auf den Weg: „WiLMA könnte etwas mehr Werbung für Gebärdensprachkurs-Angebote machen. Schließlich nützt das im Umgang mit gehörlosen Mitarbeiter*innen oder Kund*innen im Parteienverkehr.“ Und Spaß – Zeigefinger zweimal über die Nase rutschen lassen – macht der Balletttanz mit den Händen auch. Das können Verena Hollwecks Kolleg*innen bestätigen.