Der Arbeit wegen nach München
Die Spanierin Raquel Olid Simo arbeitet sie als Erzieherin in einer städtischen KITA. Wie hat es die Auswanderin geschafft, die Sprachbarriere zu überwinden?
Raquel Olid Simó | Referat für Bildung und Sport: Erzieherin

Vor Raquel Olid Simò steht ein kleines Mädchen. Ihre Haarspange hat sich in einer Jackenschlaufe verfangen. Immer, wenn sie den Kopf bewegt, ziept es. „Bitte“, sagt die Kleine und schaut hilfesuchend zu ihrer Erzieherin. Die sitzt auf einem winzigen Kinderstuhl und entwirrt geduldig Haare, Spange und Jacke, löst den Pferdeschwanz des Mädchens und bindet einen neuen. Kaum ist sie frisch frisiert, springt die Kleine davon - nicht, ohne zuvor dankbar gelächelt und die Hand auf den Arm der Spanierin gelegt zu haben. Manchmal braucht man gar keine Worte, damit man sich versteht, sondern nur ein paar Gesten.
Manchmal aber ist es auch anders: Hin und wieder ist Raquel Olid Simò noch immer auf der Suche nach dem passenden Wort in der neuen Sprache. Dann bricht sie mitten im Gespräch plötzlich ab, überlegt, murmelt den spanischen Begriff, den englischen, in der Hoffnung, doch noch auf das entsprechende deutsche Wort zu kommen. Sie lacht leise. „Es wird langsam besser mit der Sprache“, sagt sie. „Aber am Anfang, da war es sehr, sehr schwierig.“
Kein Wunder: Noch vor zwei Jahren konnte Raquel Olid Simò kein einziges Wort Deutsch. Und sie hatte eigentlich auch nicht vor, je nach Deutschland auszuwandern. Sie lebte in ihrer Heimatstadt Sabadell und studierte an der nahen Universitat Autonoma Barcelona Kindheitspädagogik. Während Erziehungskräfte in Deutschland eine Berufsausbildung machen, setzt man in Spanien auf ein vier Jahre dauerndes Studium. Die angehende Kindheitspädagogin studierte im dritten Jahr: eine junge Frau, begierig darauf, das Gelernte schon bald in die Praxis umzusetzen und mit Kindern zu arbeiten. Schon seit sie ihr erstes Praktikum gemacht hatte, wusste sie, dass dieser Beruf perfekt für sie sein würde: „Ich mag alles daran“, sagt sie. Die Kinder zu unterstützen, und zwar auf die jeweils genau richtige, individuelle Art - das liegt ihr einfach. „Ich frage mich immer: Was braucht das Kind, wie kann ich ihm helfen?“, sagt sie. Kindern auf ihrem Weg in die Zukunft möglichst viel mitzugeben - das ist ihre Leidenschaft.
Eine Leidenschaft, die sie in ihrem Heimatland Spanien allerdings wohl erst einmal nicht hätte ausleben können. „Es ist sehr schwer, dort einen Arbeitsplatz zu finden.“ Die Arbeitslosigkeit ist ohnehin hoch und auch von den vielen Absolventinnen und Absolventen des Studiums der Kindheitspädagogik bekommt nur ein kleiner Teil einen Arbeitsplatz. Auf der Suche nach Arbeit wandern diese jungen Leute aus: in die USA, nach Großbritannien oder Deutschland. Oder sie bleiben - dann aber müssen sie jeden Job nehmen, den sie kriegen können. „Manche arbeiten im Fast Food Restaurant“, sagt Raquel Olid Simò.
In Spanien drohte die Arbeitslosigkeit
Als sie von dem Projekt der Landeshauptstadt München hörte, das spanischen Kindheitspädagogen und -pädagoginnen in München einen Arbeitsplatz anbieten würde, dachte sie im ersten Moment: „Das ist nichts für mich.“ Nie hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt daran gedacht, dass sie eines Tages ihre Heimat verlassen und der Arbeit wegen in ein anderes Land ziehen könnte. Doch der Gedanke setzte sich fest, die Idee beschäftigte sie wieder und wieder. Irgendwann freundete sie sich doch mit der Vorstellung an, in einem anderen Land zu leben. Denn die Aussicht, nach dem Studium in Spanien womöglich arbeitslos zu sein, war schließlich alles andere als verlockend. Und als plötzlich auch ihr Freund, der Maschinenbau studierte, davon sprach, sich nach dem Studium eventuell eine Arbeitsstelle in Deutschland zu suchen, fasste sie einen Entschluss: Sie würde es versuchen. Sie würde Deutsch lernen, nach München gehen - und dort, wenn alles glatt laufen würde, in ihrem Beruf als Erzieherin arbeiten.
Es war alles andere als eine leichte Entscheidung: Die Familie zurücklassen, die Freunde, ihre Heimatstadt, in der sie sich so wohlfühlt. Alleine aufzubrechen in ein fremdes Land, dessen Sprache sie kein bisschen beherrscht - dazu gehört schon eine ganze Menge Mut. Doch ihre Familie gab ihr Rückhalt: „Meine Mutter hat gesagt: Natürlich ist es sehr weit weg. Aber es ist deine Zukunft - und außerdem gibt es ja Skype.“ Raquel Olid Simò ist eine pragmatische junge Frau. Als die Entscheidung einmal gefallen war, zögerte sie nicht mehr lange, sondern belegte kurzerhand einen Intensivkurs Deutsch. Sie schloss ihr Studium ab und nebenbei bestand sie ihre erste Sprachprüfung.
Schon kurz danach, im Juli 2015, begann sie ihr Praktikum mitten in der Münchner Innenstadt, im städtischen Haus für Kinder in der Herrnstraße. 130 Kinder werden hier im Kindergarten und im Hort betreut. In den Garderoben stecken die bunten Gummistiefel für den regelmäßigen Waldausflug, im Bad sind die Zahnbürsten aufgereiht und an der Tür zur Küche klebt der Speiseplan für die ganze Woche. Es ist eine fröhliche und freundliche Kita, in der die meiste Zeit des Tages ein großes Gewusel herrscht. Und trotzdem: „Es war sehr schwierig am Anfang“, erzählt die Pädagogin. Sie verfügte zwar über einen Grundstock an Deutschkenntnissen, doch Kinder sprechen natürlich nicht nach dem Lehrbuch. Sie machen sich keine Gedanken darüber, wie gut ihr Gegenüber die Sprache beherrscht, sondern reden, wie sie gerade möchten: laut oder leise, nuschelig oder undeutlich, in halben Sätzen oder in Fantasiesprache. Am Anfang habe sie nur wenig verstanden. Die fremde Sprache umgab sie wie ein großes Rauschen. Doch mit der Zeit wurde es besser. „Die Kinder haben mir sehr geholfen“, sagt Raquel Olid Simò. Sie waren direkt und unkompliziert, halfen ihr mit den richtigen Worten weiter, wenn ihr eine Vokabel fehlte, oder fragten kurzerhand nach, wenn sie selbst etwas nicht verstehen konnten. Das große Rauschen bekam langsam eine Struktur.
Unterschiedliche pädagogische Konzepte

Am Vormittag arbeitete die Praktikantin in der Kita, am Nachmittag besuchte sie mit den anderen spanischen Kolleginnen einen Deutschkurs. Sie teilte sich eine Drei-Zimmer-Wohnung in Allach mit vier weiteren Frauen und büffelte in den beengten Verhältnissen Deutsch für die zweite Sprachprüfung, die die Bedingung dafür ist, dass die Stadt München sie als Erzieherin anstellt. Erst kürzlich hat sie die gute Nachricht erhalten, dass sie das Sprachexamen bestanden hat und eine Festanstellung bekommen wird. Für Raquel Olid Simò bedeutet das: Sie ist endlich richtig angekommen in ihrer neuen Heimat.
Aus dem Leben auf Abruf hat Raquel Olid Simò in Windeseile eines mit Zukunft gemacht. Eine kleine Wohnung in Schwabing hat sie schon gefunden. Mit ihren Kolleginnen besucht sie mehrmals in der Woche die Kurse des Hallensportprogramms der Landeshauptstadt München - vor allem die Zumba-Kurse. In der Kita in der Herrnstraße ist sie nun eine Kollegin auf Augenhöhe. Sie versucht dort das Beste aus den unterschiedlichen pädagogischen Konzepten in Spanien und Deutschland umzusetzen: Dass die Kinderbetreuung in Spanien ein bisschen verschulter ist als in Deutschland, findet sie gar nicht so schlecht. In Deutschland werde den Kindern dafür von den Erzieherinnen sehr viel Respekt entgegengebracht - das gefällt ihr am deutschen Ansatz. Zum ersten Mal seit langer Zeit stehen für die Neumünchnerin nun pädagogische Fragen im Mittelpunkt - und nicht mehr die Sorge wie es für sie weitergehen soll.
Ob sie etwas vermisst in Deutschland? Sie überlegt, legt die Stirn in Falten, überlegt weiter. Dann schüttelt sie den Kopf. „Nein, ich vermisse nichts.“ Wirklich nicht? Vielleicht das schöne Wetter in Spanien? Da lacht Raquel Olid Simò und sagt: „Naja, vielleicht ein bisschen.“ Abgesehen davon sind es im Grunde nur Kleinigkeiten, die für sie den Unterschied zwischen Spanien und Deutschland ausmachen: die Öffnungszeiten der Geschäfte oder die Organisation des Gesundheitssystems. Doch das sind, wie gesagt, Nebensächlichkeiten. Obwohl sie noch nicht einmal ein ganzes Jahr in München lebt, fühlt sie sich mittlerweile sehr wohl in ihrer neuen Heimat. In der Adventszeit ist sie über die Weihnachtsmärkte der Stadt geschlendert, und wie es sich für eine Neumünchnerin gehört, hat sie natürlich auch schon einmal Weißwürste gegessen. „Ich bin wirklich froh“, sagt sie, „dass ich nach München gekommen bin.“ Und wenn alles gut geht, wird sie wohl auch nicht allzu lange allein bleiben. Ihr Freund schließt demnächst in Spanien sein Studium ab. Dann wird vermutlich auch er nach München kommen, um hier beruflich und privat Fuß zu fassen.