Vom Soldaten zum Sozialarbeiter
Michael Glas ist geübt im Wechseln zwischen den Welten. Von Schongau nach Manila, von der Bundeswehr zur Stadt. Jetzt hilft er Jugendlichen vor Gericht.
Michael Glas | Sozialreferat, Jugendgerichtshilfe

Michael Glas sitzt in seinem Büro im dritten Stock eines unscheinbaren Gebäudes nähe Hauptbahnhof. Man muss schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass es zum Stadtjugendamt der Landeshauptstadt München gehört. Draußen schneit es leicht, in München hat es Mitte Dezember die ersten Minus-Grade. Rund 10.000 Kilometer Luftlinie entfernt liegt die zweite Heimat des Sozialpädagogen: Manila auf den Philippinen, mit Temperaturen um 28 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit. Besonders im Winter wünscht sich Michael Glas öfter mal, er wäre im Warmen, auf dem südostasiatischem Inselarchipel.
Michael Glas ist in der Nähe von Schongau aufgewachsen. Sein Vater ist Deutscher, die Mutter Filipina. Nach der Scheidung der Eltern zog er mit der Mutter nach Kempten im Allgäu. Dort besuchte er das Gymnasium. Doch zum Zeitpunkt der Mittleren Reife kam bei ihm der Wunsch auf, sein fernes Mutterland kennenzulernen. Auch seine Mutter zog es damals in ihre Heimat. Eine weitere Idee sollte dem damals 17-Jährigen die 20-Stunden-Anreise schmackhaft machen: Schon seit seiner Kindheit hegte er den Traum, Pilot zu werden. Und nun gab es erstmals eine reelle Chance. Der Ex-Mann einer Tante war Flugkapitän und so hoffte man, die nötigen Verbindungen knüpfen zu können. Also flogen Mutter und Sohn Ende Juli 2006 nach Manila. Die ersten Wochen wohnten sie bei Verwandten. Die Suche nach einer Piloten-Ausbildung verlief allerdings schwieriger als gedacht. Und so überredete die Mutter, Michael zu einem Studium. „Meine Mutter sagte zu mir, ich solle dann doch erst einmal etwas Richtiges lernen“, erzählt Glas. Dann könne er später immer noch Pilot werden.
Eine katholische, von Nonnen geführte und ursprünglich nur für Frauen gegründete, Universität in Manila erschien den beiden die beste Wahl für eine akademische Laufbahn. Michael Glas erzählt, dass ihn seine Mutter auch bei der Entscheidung zum BWL-Studium sanft überredet hat. Denn eigentlich sei seine Affinität zu Zahlen („ich war schlecht in Mathe …“) und Wirtschaft nicht übermäßig groß gewesen. Nichtsdestotrotz fühlte sich Glas wohl an seiner Uni, als einer von anfangs nur 30 Männern unter 2000 Frauen – und machte 2011 seinen Bachelor-Abschluss.
Die anschließende Jobsuche auf den Philippinen gestaltete sich schwieriger als gedacht. Er nahm Kontakt zu diversen Unternehmen und großen Hotels auf. Doch sie hatten entweder keine freien Stellen oder suchten Touristikspezialisten.
Die Lebensfreude auf den Philippinen lieben gelernt
Wieder kam die Mutter ins Spiel. Sie selbst war noch 2006 wieder ins Allgäu zurückgekehrt – und riet ihrem Sohn, auch zurück nach Deutschland zu kommen. Doch eine solche Entscheidung fiel Michael Glas, mittlerweile 21 Jahre alt, wirklich schwer. „Ich hatte so viele gute Kontakte, Freunde und meine ganze Verwandtschaft“, sagt Glas. „Ich hatte mich gut eingelebt, die Werte und Normen, aber vor allem die Lebensfreude dieses Landes lieben gelernt. Auf den Philippinen wird dir sofort Essen angeboten, wenn du irgendwo reinkommst, auch wenn die Leute selbst bettelarm sind.“
Letztendlich hat sich Michael Glas dann doch zur Rückkehr nach Deutschland entschlossen. Denn er wollte auch die Beziehung zu seinem Vater, mit dem er fast keinen Kontakt mehr hatte, wiederbeleben. Er hatte sich gewünscht, dass sie wieder zueinanderfinden können und hatte auch von seinem Vater entsprechende Signale erhalten. So wohnte Michael Glas nach seiner Rückkehr für drei Monate bei seinem Vater in Schongau. Und in der Tat: Die Beiden verstanden sich überraschend gut.
In Schongau und im Umkreis von München ging Michael Glas auf Jobsuche. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Bachelor-Abschluss in Deutschland nicht anerkannt wurde. Ein kleiner Tiefschlag – der ihn zum Umdenken in eine ganz andere Richtung bewog: Als Kind hatte er neben dem Traum Flugkapitän zu werden noch eine andere Vision: Soldat zu werden. „Ich dachte mir: Probier‘ es aus, für neun Monate aus, ob es mir gefällt“, sagt Glas. Und so ging er 2011 zur Bundeswehr – und blieb dann doch für acht Jahre als Unteroffizier in einem Bataillon im Voralpenland. An den Wochenenden besuchte er oft seinen Vater und konnte so verlorene Zeit mit ihm nachholen.
Davon abgesehen gab es für Michael Glas einen viel wichtigeren Lebensmittelpunkt: seine philippinische Frau Louise. Er hatte sie zu Uni-Zeiten in Manila kennengelernt, den Kontakt via Social Media intensiviert, und schließlich dann 2015 in der Nähe von Schongau geheiratet. Louise, gelernte Krankenschwester, fand dann in München einen Job in einem internationalen Kindergarten. Und auch Michael Glas suchte eine neue Herausforderung: „Ich wollte wieder studieren, hier in Deutschland einen anerkannten Abschluss machen. Jedoch diesmal in einem anderen Fachbereich.“
Der entscheidende Anstoß kam von seiner Frau. Sie entdeckte den dualen Studiengang „Soziale Arbeit“ der Stadt München. Glas schrieb sich ein und absolvierte das dreijährige Studium. Mittlerweile arbeitet er seit Juli 2022 bei der Landeshauptstadt München in der Jugendgerichtshilfe. Ist dieser sozial-orientierte Beruf nicht das totale Gegenteil zum Soldatenberuf? „Ich verstehe, dass man das denken könnte. Und klar, es ist ein Perspektivenwechsel“, sagt Glas. „Beim Bund sind eher Eigenschaften wie Disziplin und Durchhaltevermögen gefragt – und darauf bin auch stolz, das will ich nicht negieren. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen: Auch bei der Truppe ist man immer sozial eingebunden, man ist für andere da.“
Es geht immer um das Wohl der Jugendlichen

In der Jugendgerichtshilfe ist er in erster Linie für jugendliche Straftäter*innen da. Dabei führt er vor allem viele, viele Gespräche: Zum einen mit den Jugendlichen selbst, dann mit den Eltern, der Schule – aber vor allem mit dem Stadtjugendamt. Und einmal die Woche ist er dann beim Gericht. Denn klar ist: Fast alle jugendlichen Straftäter*innen, mit denen er zu tun hat, werden angeklagt. Dadurch, dass Glas sich schon im Vorfeld ein Bild von der Situation der jungen Leute, von ihrem Umfeld, ein Bild gemacht hat, kann er einen Verhandlungs-Bericht vorlegen. Dieser hilft dem Gericht, das richtige Strafmaß zu ermitteln. Das kann von Sozialstunden über Geldstrafen und verpflichtende Beratungsgespräche bei freien Trägern reichen. Im schlimmsten Fall geht es in den Strafvollzug. Wie sieht Glas denn seine Rolle im Gericht? Ist er gewissermaßen immer „auf der Seite“ der Jugendlichen? „So eindimensional kann man das nicht sehen. Ich bin weder Anwalt noch Verteidiger. Ich muss vermitteln, auch die Rahmenbedingen mit ins Urteil einfließen zu lassen. Aber ja: Mir, uns, in der Jugendgerichtshilfe, geht es immer um das Wohl der Jugendlichen.“ Das Erfüllendste an seinem Beruf sei, dass er den jungen Leuten eine Stütze sein kann, dass sie durch seine Arbeit auch etwas für ihren Lebensweg lernen. Dabei müsse man aber auch mit kleinen Fortschritten zufrieden sein.
Wie sieht es mit seinem eigenen Wohl, seinem Lebensweg aus? Vermisst Glas seine zweite Heimat, die Philippinen? „Ja, es ist schon schade, dass ich mich nicht aufteilen kann. Denn natürlich wäre ich gern öfters auf den Philippinen, bei meinen Freunden und Verwandten“, sagt der 33-Jährige beim letzten Gespräch im Büro am Hauptbahnhof. „Aber ich bin dankbar, dass ich diese zwei so verschiedenen Welten habe, und überhaupt kennenlernen durfte. Jetzt fühle ich mich hier bei der Stadt echt wohl – besonders in meinem Team.“
Den Traum vom Pilotenberuf hat Michael Glas aufgegeben. Er überlässt es lieber den Captains der Airlines ihn das nächste Mal die 10.000 Kilometer Luftlinie nach Manila zu fliegen.