Geschlechtergerechtigkeit in der Zeit der Corona-Krise

Durch die Corona-Krise kommen die bestehenden strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern deutlicher denn je zu Tage.

Strukturelle Ungleichheiten

Statistik, In der Krise halten Frauen zusammen

Durch die Corona-Krise kommen die bestehenden strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern deutlicher denn je zu Tage. In den sogenannten systemrelevanten Berufen sind nach dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung knapp 75 Prozent Frauen beschäftigt. Als Krankenpflegerinnen, Erzieherinnen und Verkäuferinnen kümmern sie sich um die COVID-19-Patient*innen, betreuen die Kinder derer, die auch in der kritischen Infrastruktur arbeiten oder stellen die Versorgung der Bevölkerung sicher, immer in Gefahr, dabei selbst zu erkranken. In den Pandemie-Zeiten gibt es dafür Applaus, ansonsten werden diese unverzichtbaren Tätigkeiten als typische – und damit schlecht bezahlte – Frauenberufe gesellschaftlich wenig anerkannt.

Die Schließung von Kitas und Schulen stellt die Familien vor die Aufgabe, Kinderbetreuung, Homeoffice, Homeschooling und Hausarbeit zu vereinbaren. Die zusätzliche Sorgearbeit übernimmt in der Regel von den Elternteilen die Mutter. Bei Einelternfamilien sind es in rund 90 Prozent der Fälle ebenfalls Frauen, deren unausweichliche Belastung dabei noch größer wird.

Es sind im Wesentlichen Frauen, die aufgrund der zusätzlichen Sorgearbeit häufig in Teilzeit, im Minijob, im Hinzuverdiener-Modell oder als Solo-Selbstständige arbeiten und jetzt wenig oder gar nicht von den Regelungen der Kurzarbeit oder dem sozialen Sicherungssystem profitieren können.

Die häusliche Situation in Zeiten von wochenlangen Ausgangsbeschränkungen, verbunden mit existentiellen Sorgen und Nöten, erhöht das Gewaltrisiko in den Familien und betrifft zumeist Frauen und Kinder. Das gleiche gilt auch für geflüchtete Frauen und LGBTIQ* in den Unterkünften. Beratungsstellen und Frauenhäuser arbeiten schon in regulären Zeiten an der Belastungsgrenze, jetzt erschweren die Ausnahmeregeln und Abstandsgebote zusätzlich den Zugang und die Versorgung.

Die Corona-Krise macht deutlich, dass unsere gesellschaftsrelevanten Systeme schon ohne Krise an der Belastungsgrenze arbeiten und wesentlich von Frauen getragen werden. Bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen werden bisher Kriterien zur Geschlechtergerechtigkeit zu wenig berücksichtigt. Eine paritätische Einbeziehung von Frauen bei Entscheidungen und die strukturelle Beteiligung von Frauenorganisationen oder Gleichstellungsbeauftragten ist noch kein Standard.

Aus den Erfahrungen der Krise wäre eine logische Konsequenz, die „Sorgearbeit“ angemessen zu entlohnen, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umzuwandeln, Schutz-, Beratungs- und Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt auszubauen, die finanziellen und strukturellen Rahmenbedingungen für Alleinerziehende zu verbessern und dabei Frauen strukturell und paritätisch an den Entscheidungen zu beteiligen. Ein Bündnis von 20 bundesweit tätigen Organisationen und Verbänden hat dazu folgenden Aufruf gestartet: „WANN, WENN NICHT JETZT!“

Vergesst nicht: Es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert.

Simone de Beauvoir Autorin 20. Jahrhundert

Zur Lage der Frauen in der Corona-Pandemie

Zum Stand Oktober 2020

In der derzeitigen Phase der Corona-Pandemie werden weite Teile des öffentlichen Lebens wieder aufgenommen. Mit der Öffnung von Gastronomie, Einzelhandel, Verwaltung oder sozialen und kulturellen Einrichtungen tritt so etwas wie eine Normalität „unter Hygieneauflagen“ ein, die auch eine Rückkehr der Beschäftigten an den Arbeitsplatz erfordert. Schulen und Kindertagesbetreuung laufen jedoch bis auf weiteres im eingeschränkten Regelbetrieb mit strengen Betretungsregelungen. Das stellt Eltern mit Kindern vor die Herausforderung, mit eingeschränkter Betreuung, komplementärem Homeschooling und Präsenz am Arbeitsplatz und der Einforderung einer 100prozentigen Arbeitsleistung zu jonglieren. Nicht nur in Ein-Elternfamilien trifft diese Herausforderung vor allem Frauen.

Diejenigen, die noch im Homeoffice arbeiten können, laufen Gefahr, aus dem Blick zu geraten. Der Zeitraum des Corona-Lockdowns hat nicht zwangsläufig eine jahrzehntelang betriebene Präsenzkultur abgelöst. Beschäftigte im Homeoffice, u. U. mit einer durch die Corona-Krise verschärften Doppel- und Dreifachbelastung, sind wenig sichtbar. Damit mittel- bis langfristig Homeoffice zu einer Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle Geschlechter führt, müssen die Erfahrungen der Krise systematisch ausgewertet werden und zu Maßnahmen führen, die den Benachteiligungen entgegenwirken.

Jetzt schon zeigt sich, dass Frauen auch finanziell in dieser Krise besonders betroffen sind, da sie in Branchen wie Kultur, Erholung und Gastronomie tätig und damit häufiger von Arbeitslosigkeit oder langanhaltender Kurzarbeit betroffen sind. Und es ist absehbar, dass die öffentlich zu Schau getragene Anerkennung der sogenannten systemrelevanten Berufe, die zu 75 Prozent von Frauen geleistet werden, wegen der klammen Haushalts- und Wirtschaftslage nicht zu besserer Entlohnung führen wird.

Mehr und mehr zeigen sich dafür die Folgen, die der Stress zu den Zeiten von strengen Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen in den Familien gebracht hat. Je nach Lebenslage haben sich zusätzliche Belastungen, z.B. in Unterkünften oder in prekären Wohn- oder Lebensverhältnissen kumuliert und das Gewaltrisiko für Frauen, Mädchen und LGBTIQ* deutlich erhöht. Nach einer aktuellen Studie der TU München zu Gewalt an Frauen und Kindern während der COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen berichten 3,1 Prozent der Frauen von körperlichen Auseinandersetzungen mit dem Partner und in 6,5 Prozent der Haushalte kam es zu körperlicher Bestrafung von Kindern. 3,6 Prozent der befragten Frauen wurden innerhalb des letzten Monats von ihrem (Ehe)Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Viele Frauen, die von Gewalt betroffen sind, wissen nicht welche Hilfestellen es gibt. Und für Mädchen und junge Frauen, gerade aus finanzschwachen oder bildungsfernen Familien, kann die Corona-Krise durch die Abwesenheit von Betreuungs-, Jugendhilfe- und Bildungseinrichtungen zusätzlich zur Chancen-Krise zu werden.

Forderungen

Angemessene Löhne und gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen für die Carearbeit, der Ausbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen statt Minijobs, eine angemessene Ausstattung für Schutz-, Beratungs- und Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt, bessere finanzielle und strukturelle Rahmenbedingungen für Alleinerziehende fordern Frauenpolitiker_innen, Frauenverbände und Gleichstellungsstellen seit vielen Jahren. Aus den Erfahrungen der Krise wäre eine folgerichtige Konsequenz, die systematischen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern konsequent abzubauen, in strukturelle gleichstellungspolitische Maßnahmen zu investieren und Frauen an den dafür nötigen Entscheidungen gleichwertig zu beteiligen.

Zum Stand Dezember 2020

Zum Ende diesen Jahres hat uns die zweite Welle der Corona-Pandemie mit deutlich ange­stiegenen Fallzahlen und den entsprechenden Maßnahmen zu Kontaktbeschränkungen und Infektionsschutz fest im Griff. Um vom Lockdown light in den strikten Lockdown umzusteuern, wird das öffentliche Leben wieder heruntergefahren und viele Arbeitnehmer_innen ins Home­office geschickt. Vor Ort, in den systemrelevanten Berufen, leisten weiterhin mehrheitlich Frau­en die gesellschaftlich wichtige Arbeit unter erhöhtem Infektionsrisiko und unter hoher Belas­tung, wie im Einzelhandel (Frauenanteil ca. 70%), in der Pflege (Frauenanteil ca. 75 %) und in den Erziehungs- und Lehrberufen (Frauenanteil über 90%). Bei den gleichzeitigen quarantäne- und infektionsbedingten (Teil-)Schließungen von Kitagruppen, Schulklassen und Pflegediens­ten übernehmen typischerweise – wie schon im ersten Lockdown - mehrheitlich Frauen die zu­sätzlichen Aufgaben zur Versorgung und Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Fami­lienangehörigen. Nach dem Fortschreiten der Pandemie haben die meisten der Betroffenen ihre Ansprüche auf Urlaub und auf bezahlte Freistellung ausgeschöpft. Erschöpft sind zudem die eigenen Kräfte, insbesondere bei Alleinerziehenden. Die Gewissheit, dass diese Pandemie und die damit verbundenen Belastungen noch fortdauern werden, sorgt neben den physischen auch für psychische Belastungen.

In den Dienstleistungsberufen, in der Hotellerie und Gastronomie sowie in der Kultur sind viele Frauen beschäftigt, diese Branchen sind jetzt stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen des zweiten „Lockdown“ betroffen. So zeigt bereits das Wirtschafts- und Arbeitsmarktmonitoring vom Oktober des Münchner Referats für Arbeit und Wirtschaft, dass die Arbeitslosigkeit bei den Frauen im Vergleich zum Vorjahresmonat um 63,2 % gestiegen ist. Diese Zahlen werden sich kurzfristig nicht verbessern. Überproportional betroffen sind Frauen ebenfalls vom Weg­bruch der Minijobs im gewerblichen Bereich. Ebenso mussten zahlreiche Qualifikationsmaß­nahmen für Frauen mit Migrationshintergrund eingeschränkt oder ganz abgebrochen werden, mit langfristigen Folgen für die Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft.

Beinahe unsichtbar ist die Situationen von Frauen und LGBTIQ* in besonders vulnerablen Le­benslagen, wie z.B. mit chronischen Erkrankungen, mit Behinderungen, in Gemeinschafts­unterkünften, mit fehlender Krankenversicherung oder ungesichertem Aufenthaltsstatus.

Die strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern offenbaren sich gegenwärtig wieder deutlich. Der Deutsche Frauenrat bemängelt, dass die Finanzmittel aus den Corona-Konjunkturprogrammen ohne systematische Berücksichtigung von gleichstellungspolitischen Kriterien beschlossen wurden. Das erhöht die Gefahr einer neuerlichen Benachteiligung von Frauen. Insbesondere die Verteilung der Unterstützungsgelder muss so gestaltet sein, dass auch Frauen gleichberechtigt Zugang haben - trotz der für sie „typischen“ Erwerbsstruktur.

Es ist wichtig, dass die auf allen Ebenen durch die wirtschaftlichen Folgen der Krise notwendi­gen Haushaltskonsolidierungen unter den Kriterien der Geschlechtergerechtigkeit erfolgen. Sie dürfen nicht dazu führen, dass Strukturen und Einrichtungen, die der Geschlechtergerechtig­keit dienen, den Sparmaßnahmen geopfert werden. Im Gegenteil, gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig ein Ausbau des bisher defizitär ausgestatteten Hilfesystems bei häuslicher Gewalt, aber auch geschlechtersensibler und gewaltpräventiver Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und der Bildungseinrichtungen sind.

Bereits im Oktober hat die Gleichstellungsstelle für Frauen im veröffentlichten Bericht „Gleich­stellung von Frauen und Männern. Daten – Analysen – Handlungsbedarfe 2020“ die in vielen aktuellen wissenschaftlichen Studien belegten geschlechtsspezifischen Implikationen der Co­rona-Krise dargestellt und analysiert. Die geschlechtsspezifischen Folgen der Pandemie wer­den uns weiter beschäftigen und dazu auffordern, gleichstellungspolitische Maßnahmen zu er­greifen.

Zum Stand Juni 2021

„Vergesst nicht: Es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert.“
(Simone de Beauvoir)

Zahlreiche bundesweite Studien arbeiten heraus, dass gerade Frauen in vieler Hinsicht von den Folgen der Corona-Pandemie besonders betroffen sind: Beim Verlust von Arbeitsplätzen oder Existenzen, durch die Übernahme der zusätzlichen Care-Arbeit und Zurückdrängung ins Private, als Kontaktpersonen in den personenbezogenen Berufen, durch die Abnahme von Bildungschancen für Mädchen und junge Frauen, durch die Zunahme von häuslicher Gewalt, durch weniger Integrationschancen für geflüchtete Frauen und Migrantinnen. Die weltweite Bilanz in Bezug auf geschlechtsspezifische Benachteiligungen von Frauen während der Pandemie sieht laut UN-Women noch schlechter aus.

Im Herbst wird in Deutschland eine neuer Bundestag gewählt. Wesentlicher Inhalt der darauffolgenden Legislaturperiode wird sein, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie aufzuarbeiten. Die herrschenden strukturellen Benachteiligungen von Frauen wurden in der Pandemie lediglich verstärkt und sichtbar gemacht, die Handlungsbedarfe sind bekannt:

  • Die während der Corona-Krise endlich als systemrelevant identifizierte Tätigkeiten in den Care-Berufen müssen dringend aufgewertet werden.
  • Für eine zukünftig adäquate medizinische Prävention und Versorgung ist es notwendig, dass Studien geschlechtsdifferenziert durchgeführt werden. Aus Sicht von Gender-Mediziner*innen ist dies eine Binsenweisheit, welche erneut durch die geschlechtsspezifischen Nebenwirkungen von Impfungen für alle sichtbar wurde. Die während Corona noch deutlicher gewordene prekäre Situation in der Geburtshilfe und Geburtsbegleitung bedarf unbedingt einer Verbesserung.
  • Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen haben Menschen, die nicht in typischen heteronormativen Kleinfamilien leben, besonders getroffen. Aber auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sowie Kindern, Jugendlichen sowie älteren Menschen wurden untergeordnet. Staatliches Handeln auch in Krisenzeiten hat die Aufgabe, vielfältige Lebensweisen und insbesondere vulnerable Gruppen unter Einbezug der Selbstbestimmungsrechte dieser Personenkreise in den Blick nehmen.
  • In der Aufarbeitung der Pandemie werden Fragestellung zur Zunahme von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kindern zu erforschen sein, aber auch Formen von Gewalt gegenüber Frauen in Unterkünften oder Frauen in der während der Pandemie in der Illegalität ausgeübten Prostitution. Das Beratungs- und Hilfesystem benötigt dazu entsprechende Ressourcen.
  • Bildung eröffnet Chancen auf eine eigene Existenzsicherung, gerade auch Mädchen und jungen Frauen. Die Schließung der während der Pandemie aufgebauten Bildungslücken für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus bildungsfernen Schichten muss höchste Priorität haben.
  • Neu erprobte und bewährte Formen des Arbeitens, der Netzwerkarbeit, der gesellschaftspolitischen Arbeit haben gerade für Frauen – z.B. mit Betreuungspflichten oder mit Beeinträchtigungen - niedrigschwelligen Zugang zu Erwerbsarbeit, Bildung oder politischer Arbeit geschaffen. Diese positiven Effekte gilt es zu erkennen, beizubehalten und auszubauen! Dazu braucht es zukunftsorientierte geschlechtsspezifische Aus- und Weiterbildungsangebote für Frauen.
  • Die mangelhafte Vertretung von Frauen in den Gremien zum Krisenmanagement darf sich nicht bei der Aufarbeitung, Bewältigung und Neuorganisation (nach) der Pandemie fortsetzen, Parité in allen Entscheidungsgremien ist zu gewährleisten.

Da die Coronakrise unausweichlich eine Krise der öffentlichen Haushalte zur Folge hat, wird die Frage der Verteilung von Geldern wesentlich sein. Bereits jetzt verfügen Frauen über deutlich weniger finanzielle Mittel, sind stärker von Armut betroffen und auf staatliche Unterstützung angewiesen. Projekte und Beratungs- und Unterstützungsangebote für Frauen und Mädchen ermöglichen Teilhabe und wirken Benachteiligungen entgegen. Keinesfalls dürfen diese den Sparzwängen zum Opfer fallen!

Die Frage, ob und wie im Wahlkampf und in den politischen Programmen die Rechte von Frauen und strukturelle Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit auf der Agenda stehen, ist zukunftsweisend. Der in unserer Verfassung festgeschriebene Gleichstellungsauftrag gilt auch in Krisenzeiten unverändert.

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